Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts brachen die Sterblichkeitsraten in der gesamten westlichen Welt massiv ein. "Manche erklären diesen Rückgang mit Verbesserungen in den Lebensbedingungen durch höhere Einkommen und bessere Ernährung. Andere argumentieren, dass Investitionen in Kanalisation und Trinkwasserversorgung die Hauptgründe für die Reduzierung der Sterblichkeit waren. Welche Rolle jedoch der durch die ersten Krankenversicherungen etablierte Zugang zur Gesundheitsversorgung spielte, galt bisher als kaum erforscht", sagt Prof. Dr. Stefan Bauernschuster.
Er hat mit seinen Ko-Autoren diese Lücke nun geschlossen. In einem aufwändigen mehrjährigen Forschungsprojekt sammelten die Wissenschaftler historische Daten aus dem Preußischen Königreich. Sie entdeckten dabei unter anderem Daten zu allen Todesfällen von 1877 bis 1900, mit genauen Angaben zu den Todesursachen sowie zu Beruf, Geschlecht und Wohnregion der Toten. Diese Daten verknüpften sie unter anderem mit Volks- und Berufszählungsdaten der Statistischen Ämter des Preußischen Königreichs und des Deutschen Kaiserreichs, mit Daten zur Ausgabenstruktur der historischen Krankenkassen und mit Daten zum Bau von Abwasser- und Trinkwassersystemen in preußischen Städten.
Unter Verwendung moderner ökonometrischer Methoden zeigen die Wissenschaftler, dass der Rückgang der Sterblichkeit in Preußen nicht nur zeitlich mit der Einführung von Bismarcks Krankenversicherung zusammenfiel, sondern dass dieser Rückgang deutlich stärker ausgeprägt war als in allen anderen westlichen Ländern, welche keine Krankenversicherung eingeführt hatten. Insbesondere verzeichneten genau die Berufsgruppen, auf die die Krankenversicherung zielte, plötzlich einen stärkeren Sterblichkeitsrückgang als andere nicht betroffene Berufsgruppen.
Alternative Erklärungsansätze für diesen Rückgang wie etwa verbesserte Arbeitsbedingungen oder andere zeitgleiche politische Maßnahmen können die Autoren durch detaillierte Analysen ausschließen. "Insgesamt reduzierte Bismarcks Krankenversicherung die Todesraten der preußischen Arbeiter bis zur Jahrhundertwende um circa neun Prozent", fasst Professor Bauernschuster zusammen. Der Effekt ist vor allem durch einen Rückgang von Tuberkulose-Todesfällen getrieben - und das, obwohl diese Krankheit zu dieser Zeit nicht heilbar war. Wie ist dies zu erklären? Während man bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts davon ausging, dass Krankheiten durch schlechte Gerüche verbreitet wurden, revolutionierte unter anderem Robert Koch die Medizin, indem er Bakterien als Krankheitserreger entdeckte und aufzeigte, wie wichtig die alltägliche Hygiene für die Vermeidung von Ansteckungen ist. "Erst durch Bismarcks Krankenversicherung konnten diese damals revolutionären Erkenntnisse auch an ärmere Bevölkerungsgruppen weitergegeben werden, denen der Zugang zu Ärzten ansonsten aufgrund fehlender finanzieller Mittel verwehrt geblieben wäre", so der Passauer Forscher.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass mit der Einführung der allgemeinen Krankenversicherung für Arbeiter im Jahr 1884 durch Otto von Bismarck ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung gemacht wurde. Später galt die durch Bismarck eingeführte Krankenversicherung als Vorlage für viele Sozialversicherungssysteme auf der ganzen Welt. Auch das heutige Krankenversicherungssystem in Deutschland basiert in weiten Teilen auf Bismarcks Ideen. Die Studie ist nicht nur historisch interessant. Sie liefert auch interessante Einblicke für heutige Entwicklungsländer, in denen über die Einführung von Krankenversicherungen diskutiert wird und in denen ansteckende Krankheiten wie im damaligen Kaiserreich die Haupttodesursachen darstellen.